Cover
Titel
Vom Gast zum Gastwirt?. Türkische Arbeitswelten in West-Berlin


Autor(en)
Zeppenfeld, Stefan
Reihe
Geschichte der Gegenwart (26)
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Alexopoulou, Historisches Institut, Universität Mannheim / Zentrum für Antisemitisforschung, Technische Universität Berlin

Lokalhistorische Zugriffe auf Migrationsgeschichte sind en vogue und das ist gut so. Im Lokalen schlagen sich differierende Kommunal- und Landespolitiken sowie die Bundespolitik nieder und können von hier aus zurückverfolgt werden; die gegebenen ökonomischen, Bildungs-, sozialen und gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen werden sichtbar; es sind lebensweltliche Einblicke möglich, und nicht zuletzt werden Migrant:innen in all ihrer Heterogenität und unterschiedlichen Rollen hier am besten in ihrer Agency sicht- und untersuchbar. Deshalb ist Stefan Zeppenfelds Fokus auf die Geschichte migrantischer Arbeitswelten im Lokalen sehr zu begrüßen. Zeppenfelds eigentliches Ziel ist dabei, einen Beitrag zur „Zeitgeschichte der Arbeit“ aus einer neuen Perspektive zu schreiben, nämlich nicht entlang des „Niedergangs eines Sektors oder einer einzigen Branche“ (S. 19), sondern entlang der Spuren einer migrantischen Gruppe, der Türkeistämmigen Berliner Community. Doch dieser Plan geht nur teilweise auf.

Das aus einer Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin entstandene Buch ist gut strukturiert und gut geschrieben, bietet eine Fülle von interessanten Informationen und Einblicken und demonstriert einen findigen Umgang mit Quellen, insbesondere mit Fotografien und Karten. Allerdings leidet die Studie, das sei hier schon festgestellt, an einer gewissen methodologischen Schwammigkeit, die sich auch daraus ergibt, dass der Autor nicht so richtig bereit zu sein scheint, sich auf einen Zugriff festzulegen oder seinen eigenen Forschungsgegenstand zu nutzen, um einen solchen (mit)herauszuarbeiten.

Zunächst zum Untersuchungsgegenstand: Dass Zeppenfeld sich für West-Berlin (eigentlich Kreuzberg) entschieden hat, ist trotz einiger eher kulturhistorischer Studien, die es zu diesem translokalen Ort schon gibt, vertretbar, da Berlin für die gesamte deutsche Geschichte in puncto Migration und Diversität freilich eine Leuchtturmposition einnimmt, auch weit bevor sich hier die größte „türkische Stadt“ außerhalb der Türkei etablierte. Dass dies so kam, hatte allerdings wenig mit dem Konnex zu tun, der immer wieder und fälschlicherweise zwischen dem Anwerbeankommen mit der Türkei 1961 und dem Mauerbau hergestellt wird, nämlich dass ersteres direkte Folge des letzteren gewesen sei, angesichts des jähen Abschneidens des Arbeitskräftereservoirs aus dem Osten. Direkt am West-Berliner Beispiel kann Zeppenfeld mit diesem Mythos gründlich aufräumen, indem er auf die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen eingeht. Zudem zeigt er, dass der West-Berliner Arbeitsmarkt, der 1961 am direktesten betroffen war (so vor allem die Firmen Siemens und Telefunken), dabei keinerlei Rolle spielte, schon allein da West-Berlin ohnehin erst seit 1964 Arbeitsmigrant:innen über die Anwerbeabkommen anfordern konnte. Allerdings wurden türkeistämmige Arbeitskräfte von Berliner Firmen oder dem öffentlichen Dienst, der ebenso ein wichtiger Arbeitgeber für sie war – die städtische Müllabfuhr, die Reinigungsdienste der Berliner Verkehrsbetriebe, sehr vereinzelt, aber hier recht früh, schon 1979, die Polizei – gar nicht direkt in der Türkei angeworben; meist wurde auf bereits anwesende Arbeitsmigrant:innen zurückgegriffen, die bis 1973 bzw. 1975, als es auch in Berliner Bezirken (darunter Kreuzberg) kurzzeitig eine Zuzugssperre gab, europa- und dann zumindest noch deutschlandweit recht mobil waren.

Die Mauer ist für die Migrationsgeschichte Berlins dennoch zentral und macht auch den speziellen Reiz als Fallbeispiel mit aus, an dem auch diesbezügliche Mythen widerlegt werden können. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie ist meines Erachtens, dass der Anwerbestopp 1973 für den migrantischen Arbeitsmarkt in Berlin weit weniger folgenreich war als der Fall der Mauer, dass also die Zäsur-Periode 1989/93, die bereits für weitere migrationshistorische Aspekte diskutiert wird, auch arbeitsmarktpolitische Folgen hatte. Diese waren wie auch andere unmittelbare Folgen der Wiedervereinigung für Migrant:innen, insbesondere Türkeistämmige und nochmal insbesondere türkeistämmige Berliner:innen, ziemlich ausgeprägt und negativ. Zum Ausdruck bringt dies das berühmte geflügelte Wort „uns fiel die Mauer auf den Kopf“, dessen Implikationen Zeppenfeld in seinem Fazit bespricht. Gleichzeitig kann der Verfasser hier ein weiteres wichtiges Moment in der Tendenz zum sektoralen Wandel auch oder gerade eben wieder bei den türkeistämmigen Berliner:innen ausmachen: Mit der Bewegung vom sekundären zum tertiären, also zum Dienstleistungssektor zeigte sich eine Tendenz, mit der sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte, die Zeppenfeld nicht mehr untersucht, auf die er aber dennoch kurz eingeht, auch migrantische Selbstständigkeit stark veränderte und damit ihrerseits den Arbeitsmarkt, aber auch den jeweiligen sozialen und ökonomischen Nahraum entscheidend mitprägte. Aus prekärer Selbstständigkeit im Obst-/Gemüsehandel und „Gastgewerbe“ entstanden teilweise florierende mittelständische Unternehmen, wie Zeppenfeld herausstellt; worauf er aber kaum eingeht, ist, dass darüber hinaus – und das weiß man aus der auf Deutschland fokussierten Forschung zu migrant enterpreneurship –, der Anteil von innovativen, „wissensintensiven Dienstleistungen“ seit den 1990er-Jahren stetig ansteigt.1

Zeppenfelds Entscheidung, sich auf eine und gerade diese Herkunftsgruppe zu fokussieren, ist aus mehreren Gründen nachvollziehbar. Doch dieser Ansatz – die ethnic lens – ist sicherlich nicht mehr State of the Art und das ist Zeppenfeld durchaus bewusst (S. 20). Warum dann also diese Eingrenzung und nicht der migrantische Arbeitsmarkt Berlins insgesamt, mithin, wenn man nicht einmal den Vorteil eigener Sprachkenntnisse miteinbringt, im vorliegendem Fall Türkisch, die der Verfasser zumindest in seinem Buch und in seinem Quellenverzeichnis nicht erkennbar demonstriert? Viel schwerwiegender ist allerdings, dass er aus der Größe und Heterogenität der Berliner türkeistämmigen Community quellentechnisch so wenig macht und lediglich fünf von seinen insgesamt nur sechs Interviews mit Türkeistämmigen Migrant:innen geführt hat, für deren Erhebung man in Berlin kein Türkisch braucht und die bei diesem recht lebensweltlichen Thema – vor allem wenn man auch die Agency und Perspektive von Migrant:innen herausarbeiten will – äußerst fruchtbar gewesen wären. Denn während er etwa für die Untersuchung des recht frühen Einsatzes von Türkeistämmigen Erzieher:innen und Lehrer:innen in Kitas und Schulen auf gutes Quellenmaterial aus den Bewegungsarchiven und dem Archiv der evangelischen Kirche verfügt und somit dieses Themenfeld in der Darstellung und argumentativ recht überzeugend erarbeitet, bleibt vor allem die Schilderung der „Gastwirt“- (bzw. der Selbstständigkeits-)Welt trotz der guten Beispiele recht blutleer. Zudem scheinen hier vor allem Fälle näher bearbeitet worden zu sein, die aufgrund ihrer Besonderheiten aktenkundig wurden, womit nach Lesen dieses Unterkapitels der Eindruck bleibt, dass die hier abgeleiteten, weitgehenden Schlussfolgerungen Zeppenfelds vielleicht doch nicht so repräsentativ sind: nämlich, dass ständiger Wechsel, Diversifizierung, Kurzlebigkeit von Betrieben kein Zeichen von Prekarität migrantischer Selbstständigkeit, sondern Ergebnis einer bewussten Strategie waren, um bei nicht erfolgter Entscheidung, ob man in Deutschland bleiben wolle oder nicht, bewusst „Normalarbeitsverhältnisse“ zu vermeiden und sich hier einen eigenen Arbeitsmarkt mit eigenen kurzlebigen Regeln zu schaffen versuchte (z.B. S. 278; als generelle These zur unselbstständigen „Gastarbeit“ auch S. 30 und S. 377f.).

So sehr das nach Selbstwirksamkeit und Eigensinn klingt, überzeugt diese Interpretation nur in Teilen, da es zahlreichen anderen Erfahrungen vor allem auch migrantischer Mono-Selbstständiger widerspricht: fehlende unternehmerische Kenntnisse und die Schwierigkeit, sich diese nachholend anzueignen, restriktive politische und Verwaltungsvorgaben, fehlendes Kapital.2 Hätte Zeppenfeld hier auf Interviews mit damaligen Selbstständigen gesetzt, hätte er sicherlich breitere Erkenntnisse generieren können, hätte zudem die Mehrheitsperspektive, die er als Verfasser doch immer wieder – wohl unbewusst – einnimmt und reproduziert, eher vermeiden können. Zudem kritisiert Zeppenfeld selbst zurecht, dass migrantische Selbstständigkeit und Ökonomie noch zu stark aus der angelsächsischen Theoriebildung und Forschungstradition heraus untersucht werden (S. 237), doch nutzt er dann seine Erkenntnisse zu wenig, um diesem Manko durch eigenen historiographischen Input für eine künftige Theoriebildung zur „Migrantenökonomie in Deutschland“ entgegenzuwirken.

Zeppenfeld hätte zugunsten von mehr Interviews etwa auf den ein oder anderen schriftlichen Quellenbestand verzichten können, so etwa den vielversprechend klingenden Einbezug von Akten der amerikanischen Besatzungsmacht. Sie waren wohl in erster Linie für das Unterkapitel über die „kriminelle Erwerbstätigkeit“ nützlich, vor allem zur Drogenkriminalität. So spannend dieses Kapitel sowie dasjenige zu „Schwarzarbeit“ sich lesen, so ist es doch recht unüblich, diese Aktivitäten als Erwerbstätigkeit zu bezeichnen – ein Begriff, der durch die ILO definiert ist und Einnahmen aus kriminellen Tätigkeiten wie Dealen freilich nicht umfasst. Bei so einem breiten Verständnis von Erwerbstätigkeit fragt man sich umso mehr, warum Zeppenfeld (meist weibliche) Care-Arbeit völlig außen vorlässt, während er an anderen Stellen Gender mitdenkt. Das wäre gerade in Bezug auf die „türkische Frau“, deren gesellschaftliches Unsichtbarmachen sich auch historiographisch reproduziert hat, enorm wichtig gewesen.

Schließlich noch einige Worte zum Zugriff: Die am Anfang erfolgte methodologische Selbsteinordnung in die Tradition der sozialhistorischen Migrationsforschung Klaus J. Bades (S. 13) wirkt recht altbacken und die Ankündigung, Konzeptionen der kritischen Migrationsforschung nutzen, sich dieser aber nicht zuordnen zu wollen (S. 22), etwas befremdlich. Dies erweist sich dann auch als nachteilig, was sich etwa in der inhaltlich inkorrekten Gleichsetzung des „Autonomie der Migration“-Konzepts mit Alf Lüdtkes Eigensinn zeigt (S. 384f.) oder in der Nutzung des Adjektivs „rassistisch“, ohne dass an irgendeiner Stelle definiert wird, was genau damit gemeint ist.

Dass gerade die Stadt der Ort ist, an dem die auch in den Arbeitswelten nachzuzeichnende Transformation zur Einwanderungsgesellschaft am deutlichsten sichtbar wird, selbst im Kleinen, zeigt Zeppenfeld minutiös an vielen Beispielen, etwa an der bereits erwähnten Darstellung der Öffnung christlicher, konfessionsgebundener Kitas für muslimische Erzieher:innen oder generell auch in Erwerbsbiographien von Akademiker:innen.

Doch nutzt er die vielen kleinen Erkenntnisse, die er aus dem Materialreichtum, den er selbst gehoben und ausgebreitet hat, nicht, um dem local turn als einer Untervariante des spatial turn in der Migrationshistoriographie eine weitere historiographische Unterfütterung zu geben. Und das geschieht auch nicht in Bezug auf sein selbstgestecktes Ziel einer Neuperspektivierung der Zeitgeschichte der Arbeit: Denn letztlich bewertet er seine eigene Studie (lediglich) als eine erste Tiefenbohrung, eine Fallstudie, der weitere folgen sollten. Dem ist zuzustimmen, aber es hätte auch hier schon das Potential gegeben, das theoretische Fundament für die Nachfolgestudien ein wenig grundlegender und expliziter vorzubereiten.

Anmerkungen:
1 René Leicht, In einem gänzlich anderen Licht. Unternehmertum von Migrantinnen und Migranten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), Heft 16–17: Unternehmertum, S. 32–38, https://www.bpb.de/apuz/224517/unternehmertum-von-migrantinnen-und-migranten?p=0 (07.11.2022).
2 Vgl. dazu die Arbeiten, die seit Jahrzehnten z.B. am Institut für Mittelstandsforschung (Universität Mannheim) entstanden sind: http://www.institut-fuer-mittelstandsforschung.de/migrantenoekonomie (07.11.2022).

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